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Samstag, 26. Januar 2013

Weniger Übergangssystem muss viel mehr Übergangssystem zur Folge haben

selbstgemachte Pralinen

Die Zeitung „Das Parlament“ vom 21.01. berichtet über die jüngsten Versuche des Bundestages, Jugendliche schneller in Ausbildung und Beruf zu bringen. Die Debatte ist jahrzehntealt, auch die Lösung „Raus aus dem Übergangssystem“.

300.000 Jugendliche „verharren“ nach der Schule „im sogenannten Übergangssystem, dem Zeitraum zwischen Schulabschluss und Ausbildungsbeginn, und finden nur schwer den Anschluss an Qualifizierung und Ausbildung“. Spätestens seit Klaus Hurrelmanns Arbeit „Warteschleifen. Keine Berufs- und Zukunftsperspektiven für Jugendliche?“ von 1989 ist die Sache begrifflich verortet und es wird ritualisiert in die gleiche Kerbe geschlagen.

Die Realität ist in nicht unerheblichem Ausmaße eine andere. Sehr viele Jugendliche erwerben allererst in den so genannten „Warteschleifen“ Orientierung und Perspektive. – Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe fünf Jahre lang Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis und sonstiger Perspektive als Leiter von Kursen der Arbeitsagentur für Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss, mit Mittlerer Reife, auch „Rehafälle“ mit Abitur, eine solche gegeben.

Wer ist schuld? Die Schule? Nachdem ich nun acht Jahre im Schulsystem arbeite, die vergangenen drei Jahre als Koordinator einer Verbundschule, die Realschule, Gymnasium und Berufskolleg umfasst, kenne ich auch diese Seite und verfalle nicht in die gleichermaßen ritualisierte, nichtsdestoweniger falsche Antwort: die Schule.(Die Schule hat wirklich mehr und mehr das Monopol "Schule der Nation" zu sein, für alles zuständig und verantwortlich.)

Orientierung und Perspektive setzt zunächst und vor allem Beratungsarbeit voraus, Beratungsarbeit, welche flankiert und eingebettet ist, in ein gut gepflegtes Dokumentationssystem einerseits, in ein modularisiertes, integriertes System der berufsorientierenden Angebote andererseits.

Die Situation an Haupt- und Förderschulen lasse ich einmal außen vor und spreche für Realschule und Gymnasium, obwohl wir einerseits mit unserem Angebot der Klassen Gemeinsamen Unterrichts schon in der neunten Klasse angekommen sind und insofern bereits begonnen haben, die entsprechenden Angebote z.B. der Arbeitsagentur (so genannte Reha-Beratung) anzubieten, andererseits mit Einführung der Sekundarschule bald auch die Formate der hauptschulischen Berufsorientierung in unser Konzept aufnehmen werden müssen.

Würfel, hergestellt von einem Schüler, 7. Klasse
 Hier empfiehlt sich die Ausweitung der Netzwerkarbeit z.B. auf die Förderschulen und Hauptschulen, um von der vorhandenen Expertise dieser Kolleginnen und Kollegen zu lernen.

Das versäulte Denken ist überholt und sollte schnellst möglich ad acta gelegt werden.

Schule krankt immer noch an zu wenig individueller Beratung. Dies vor allem auch im Bereich beruflicher Orientierung. Niederschwellige Gesprächsangebote unter Einbindung der Eltern, vor allem im unmittelbaren Anschluss an (hoffentlich) formative Erfahrungen in der Arbeits- und Berufswelt ermöglichen in Verknüpfung mit persönlichkeitsbezogenen Diagnostiken wie der Potenzialanalyse ein Vorankommen in beruflichen Fragen.

Viele Jugendliche kommen allein zurecht. Gewiss. Sie kämen wahrscheinlich auch ohne Potenzialanalyse und Berufsfelderkundung zurecht. Vielleicht auch mit viel weniger Schule. Aber auch viele, zu viele Jugendliche brechen Ausbildung und Studium ab oder werden von den Angeboten der Schule nicht berührt.  Zudem ist Berufsorientierung Allgemeinbildung. Jeder Mensch sollte einmal in einer Metallwerkstatt ein Produkt erstellt haben oder in einer Pflegeeinrichtung alte Menschen begleitet haben. Die Schule ist der Ort dafür.


Was ist erforderlich:

  • Zeit für Beratung
  • Qualifikation für Beratung (einschließlich der Kompetenzklärung zwischen Berufsberatung seitens der Arbeitsagentur und der Schule)
  • Aufbau und ebenso wichtig: Pflege nachhaltiger und verzahnter Angebote (man mag diese abgegriffenen, nichtsdestoweniger bedeutsamen Vokabeln schon gar nicht mehr gebrauchen)
  • Aufbau und Pflege eines vielseitigen, pulsierenden Netzwerkes von Außenkontakten
  • Formative Einblicke in die Berufswelt und Praktika, die ihren Namen verdienen, weil sie Erfahrungen ermöglichen, welche die Persönlichkeit tangieren
  • Das bedeutet vor allem: Stärkung des gebundenen Ganztages mit institutionalisiertem und modularisiertem Beratungs-Angeboten der Berufsorientierung
  • Ausreichend Zeit für Praktika, durchgeführt von Meistern ihres Fachs, didaktisch durchdacht und nicht unverbindliche und folgenlose ad hoc Veranstaltungen
  • Klärung der Auswirkung des erweiterten Zeitbedarfs für Berufsorientierung angesichts von G8. (Hier zeigt sich inwiefern das Neue Übergangssystem wirklich ernst genommen wird.)
  • Gleichzeitig: Fehlerfreundlichkeit

Was leistet das Neue Übergangssystem?

Eine willkommene, längst überfällige Standardisierung der Berufsorientierung in unserem Bundesland.

Endlich die Ausdehnung der Berufsorientierung auf das ganze Schulsystem, also auch die Gymnasien.

Aber:

Ein Gehen in die Fläche auf Kosten existierender und mit Engagement aufgebauter, qualitativ hochwertiger Berufsorientierung  – wie an meiner Schule, welche tendenziell verbrannte Erde zu hinterlassen droht.

Stärkung der verheerenden „Abhakmentalität“, welche Angebote durchführt, „abarbeitet“ und es damit gut sein lässt. Beispiel: Wie soll innerhalb des Schulbetriebes mit den Ergebnissen von 120 Schülerinnen und Schülern umgegangen werden? Abheften im Portfolio? Besprechen? Wer? Mit welcher Qualifikation? Inwiefern sollen die Ergebnisse Einfluss haben können auf sich anschließende Praktika? Wie sollen diese vorbereitet und ausgewertet werden? Ist das alles trivial? Weiterbildungsbedarf? Wird abgefragt, aber mit der Antwort, wir haben sowieso kein Geld dafür, versehen.

Die Berufsorientierung muss auf die Eigenart gymnasialer Verhältnisse abgestimmt werden . Wie muss hier in der Sekundarstufe I orientiert werden? (Mein Kind soll kein Handwerker werden, also ist ein Praktikum in der Metallwerkstatt nicht notwendig. Mein Kind verliert Lernzeit, wenn es jetzt Berufsorientierung betreiben soll. usw.?)

Unzureichender Diskurs: Wenig Diskussion, keine Auswirkung der vorliegenden Expertise in Sachen Berufsorientierung auf die Planungen des Übergangssystem, vielmehr Verordnung der Durchführung bestimmter Maßnahmen, welche teilweise deutlich hinter den Stand erreichter Qualität zurückfallen (vgl. Berufsfelderkundung und Talentwerkstatt).
(Wenigstens in der Referenzphase hätte doch eine Diskussion von Elementen einer guten Berufsorientierung, einer guten Strukturbildung und -pflege und einer guten Implementierung  stattfinden müssen?)

Das alles kostet Zeit, verlangt gut ausgebildetes Personal und folglich viel Geld: Weniger Übergangssystem bedeutet daher mehr Übergangssystem.

Der alte Vorbehalt aus dem Dienstblattrunderlass 42/96 des Arbeitsamtes wäre wenigstens erfüllt: Die Finanzierung berufsvorbereitender Maßnahmen einzustellen, da Schule in der Lage ist, dies selbst zu tun.

Nur dass zudem nicht mehr allein die Benachteiligten im Fokus stehen, sondern alle jungen Menschen. Eine Inklusion der anderen Art mithin.

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