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Sonntag, 18. Oktober 2009

Berufsorientierung in der Wissensgesellschaft

(Gekürzter Auszug aus dem Aufsatz von Alfred Lumpe: Gestaltungswille, Selbstständigkeit und Eigeninitiative als wichtige Zielperspektiven schulischer Berufsorientierung, Bad Heilbrunn 2001, S. 107-123. Lesen Sie den ganzen Aufsatz hier: http://www.sowi-online.de/reader/berufsorientierung/lumpe.htm )

I. Anforderungen an die Berufsorientierung in der Wissensgesellschaft

Sieben Trends für die Zukunft der Erwerbsarbeit
(nach Karen Schober 2001: http://www.sowi-online.de/reader/berufsorientierung/schober.htm ):

Informatisierung

Für immer mehr Arbeitsplätze werden Kenntnisse und Fähigkeiten im Einsatz der modernen Kommunikationsmittel erforderlich. Berufsorientierung wird künftig noch mehr als heute auch einen Beitrag dafür leisten müssen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Medienkompetenz weiterentwickeln.

Globalisierung

Mit der Globalisierung verändern sich die Konkurrenzsituationen und die Zumutbarkeiten an regionale Mobilität. Fremdsprachenkompetenzen, kulturelle Kompetenzen und Mobilität gewinnen im Berufsleben an Bedeutung.

Entkoppelung

Die künftig Beschäftigten müssen zunehmend bereit sein, ihre Weiterbildung eigenverantwortlich zu gestalten. Der Auftrag der Berufsorientierung umfasst damit auch die Entwicklung der Fähigkeit, die individuelle Bildungsbiografie zu gestalten.

Erwerbsformen

Die Erwerbstätigen müssen in größerem Maße zu Unternehmern der eigenen Arbeitskraft, zu den Managern der eigenen Potenziale werden. Berufsorientierung hat damit auch die Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Potenziale bewusst wahrzunehmen, zu überprüfen und weiter zu entwickeln.

Entstandardisierung von Berufsbiographien

Der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung erweist sich als zunehmend verzweigter: vorher noch eine weitere schulische Ausbildung oder erst mal jobben, ein Praktikum oder ein Auslandsaufenthalt, dann vielleicht erst studieren. Berufsorientierung muss Schülerinnen und Schüler unterstützen, auch angesichts der verschiedenen Möglichkeiten schon beim Einstieg in die Berufswelt entscheidungsfähig zu sein, berufliche Orientierung als permanente Aufgabe wahrzunehmen und Veränderungen nicht zwangsläufig als Brüche zu verstehen. Berufsorientierung trägt zur Stärkung der Persönlichkeit bei.

Entberuflichung

In Anzeigen am Arbeitsmarkt wird der Trend deutlich sichtbar. Die Anzeigen nicht nur für neue Berufe oder besonders außerordentliche Beschäftigungen enthalten heute oftmals wenig Hinweise auf formale Qualifikationen und Abschlüsse. Der Beruf behält nur für einen Teil der Erwerbstätigen und einen Teil der Arbeitsplätze seine Bedeutung. Für die Berufsorientierung verändert sich damit das Zentrum der Orientierung.

Qualifizierung

Die Anforderungen in der Berufsausbildung sind in den letzten Jahren quer durch alle Berufe gestiegen, der Trend zur Höherqualifizierung, verbunden mit der Bereitschaft und Fähigkeit, das fachliche Wissen ständig zu aktualisieren, ist nach wie vor zu beobachten und schließt extrafunktionale Qualifikationen wie die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen ein. Berufsorientierung muss dazu beitragen, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf diese Aufgaben vorbereiten und das eigene Lernen in unterschiedlichen Kontexten organisieren und professionalisieren können.

II. Eckpunkte einer zeitgemäßen Berufsorientierung

Welche Kompetenzen müssen die Jugendlichen erwerben, damit sie sich unter diesen Bedingungen in der Berufswelt orientieren und ihre Potenziale und Fähigkeiten entfalten können?

Anschlussorientierung

Für den Anschluss stärken ist mehr als auf den Abschluss hinarbeiten. Lernen in der Perspektive der Anschlussfähigkeit heißt den Schwerpunkt verlagern und im Abschluss einen Zwischenschritt zu sehen. Der Abschluss ist ein Meilenstein, aber kein Schlusspunkt. Der Anschluss ist das Ziel und muss gelingen. Damit wird die Wahrnehmung umfassender. Die Vorbereitung der nächsten an die Schule anschließenden Schritte, der erfolgreiche Einstieg und die Bewährung in Ausbildung und Beruf wird handlungsleitend. Rückmeldungen über den erfolgreichen Anschluss der Absolventen werden bei der Arbeit für den Abschluss einbezogen. Berufsorientierung in der Perspektive der Anschlussorientierung unterstützt die Schülerinnen und Schüler bei der Steuerung und Planung des ersten Übergangs (Grundlage für die folgenden Übergänge) und des Weiterlernens. Sie nimmt die Organisation des Übergangs explizit als ihre Aufgabe wahr.

Berufsorientierung in der Perspektive der Anschlussorientierung bietet Lernsituationen, in denen die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Potenziale und Ziele Umsetzungsschritte planen und den Erfolg auswerten. Sie werden unterstützt, ihr Selbstbild zu klären und ihre Persönlichkeit zu stärken: Was will ich? Was kann ich? Was sind meine Stärken? Wie entwickle ich mein Qualifizierungsprofil? Wie plane ich meine Kompetenzentwicklung?

Selbstorganisation und Eigenaktivität ermöglichen und verwirklichen

Die Schülerinnen und Schüler führen in ihrem Berufsorientierungsprozess selbst Regie. Dies muss ermöglicht und immer wieder verdeutlicht werden. Sie werden dabei jedoch nicht alleine gelassen, sondern von den Lehrerinnen und Lehrern in vielerlei Hinsicht unterstützt und begleitet. Aber sie übernehmen zunehmend mehr Verantwortung für ihren Lernweg und ihr Orientierungssystem. Sie werden als individuell und aktiv Lernende ernst genommen und mit der eigenen bewussten und unbewussten Lernorganisation konfrontiert. Die individuelle Lernorganisation wird zum Gegenstand des Lernens.

Wer Selbstverantwortung übernimmt, muss sich selbst kennen. Berufsorientierung unterstützt die Schülerinnen und Schüler bei der Klärung ihres Selbstbildes, ihrer Interessen, Potenziale und Ziele. In entsprechenden Lernsituationen vergleichen die Schülerinnen und Schüler ihre Selbstwahrnehmung mit der Wahrnehmung der eigenen Person durch andere (Mitschüler, Lehrende, Eltern) und werten den Unterschied aus. Sie reflektieren und korrigieren ihr Selbstbild. Dieser Prozess wird im Rahmen der Berufsorientierung mehrmals wiederholt und die Veränderungen werden wahrgenommen. Das Zur-Kenntnis-Nehmen verdeutlicht Entwicklungen. Die Veränderungen und die Wahrnehmung der Veränderung sind wichtige Informationen und Motivation für die Entwicklung der Orientierungskompetenz.

Schülerinnen und Schüler müssen Eigeninitiative entwickeln. Die Lernsituationen müssen dafür Freiraum bieten. Eigeninitiative entwickeln und Lernprozesse selbst steuern bedeutet nicht, unabhängig von den Lehrenden über Inhalte und Lernwege zu entscheiden. Auch für selbst gesteuertes Lernen gelten Rahmenbedingungen, die die Lehrenden setzen und verantworten.

Vernetzung nach innen und außen

Berufsorientierung nutzt die vorhandenen Potenziale innerhalb und außerhalb der Schule für die Optimierung des Übergangs in den Beruf. Dies gelingt um so mehr, wenn die Ziele allen Beteiligten transparent sind, die einzelnen Aufgaben benannt sind, die Zusammenarbeit geregelt ist, die Erwartungen und Verpflichtungen der Beteiligten klar sind und die Verantwortung für die Aufgabenerfüllung abgesprochen ist.

Grundlage einer zeitgemäßen Berufsorientierung ist eine Vernetzung nach innen, d. h. entsprechende Kommunikations- und Kooperationsstrukturen innerhalb der Schule müssen vorhanden sein. Die Beteiligten sind nicht nur die Klassenlehrerinnen und -lehrer und die für Berufsorientierung zuständige Lehrerin bzw. der zuständige Lehrer. Eingebunden sind alle Lehrenden, die Schulleitung und auch die Lernenden selbst. Die für die Berufsorientierung verantwortlichen Personen sichern den Informationsfluss und sind Ansprechpartner für die außerschulischen Kooperationspartner. Sie unterstützen Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler, sie koordinieren einzelne Projekte und übernehmen Verantwortung für die Weiterentwicklung der schuleigenen Konzepte, einschließlich der Planung geeigneter Fortbildungsbedarfe. Die Vernetzung nach innen ist Voraussetzung dafür, dass Berufsorientierung nicht als Aufgabe des Klassenlehrers oder der Klassenlehrerin oder einzelner Fachlehrkräfte missverstanden, sondern als gemeinsame Bildungs- und Erziehungsaufgabe der Schule wahrgenommen werden kann.

Die Vernetzung nach außen ist Grundlage für die Einbeziehung der außerschulischen Partner in die schulische Arbeit. Dabei ist zu bedenken, dass Kooperationen mit Schulen bei vielen Partnern nicht zum Kerngeschäft gehören. Dennoch sind sie bereit, einen Beitrag zu leisten, wenn die Zusammenarbeit erleichtert wird.

Systemenergien nutzen, Lernchancen erhöhen

Weiterentwicklung beginnt meist mit der Bilanzierung der Praxis, mit der Auswertung der Ergebnisse. Was weiß eine Schule aber systematisch über das Ergebnis, d. h. den Verbleib ihrer Schülerinnen und Schüler? Mit welchen systematisch erhobenen Informationen verschaffen sich die Lehrerinnen und Lehrer ein Bild über den Stand der Anschlussplanung ihres Schülers oder ihrer Schülerin? Sind die Informationen für alle Lehrerinnen und Lehrer des Schülers bzw. der Schülerin zugänglich? Welche Informationen haben die Schulen über Ausbildungsabbrüche und deren Gründe und welche Informationen haben die Schulen über die Entwicklung dieser Größen? Diese Fragen führen zur dahinter liegenden Frage nach den Chancen der Lehrerinnen und Lehrer, aus diesen Informationen lernen und Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Lernsituationen ziehen zu können. Fehlende Informationen verhindern Lernmöglichkeiten. Solange die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer einer Lerngruppe über keine Informationen zum Stand der Anschlussplanung der einzelnen Schülerinnen und Schüler verfügen, können sie nicht zur Optimierung des Anschlusses beitragen. Der Schüler oder die Schülerin entwickelt in diesem Falle seine bzw. ihre Orientierungskompetenz in Lernkontexten, die nicht auf die Entwicklung der Orientierungskompetenz abgestimmt sind.

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Lernen Sie Dr. Lumpe in einem Interview kennen (es geht um Mentoren): http://www.youtube.com/watch?v=if19aAtZct4

Vgl. Sie auch diesen Aufsatz: Von der Abschlussorientierung zur Anschlussorientierung:
http://www.berufswahlpass.de/seiten/pdf_usw/Dr_Lumpe_Vortrag_Lueneburg_Mai_2006.pdf

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