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Donnerstag, 23. Juni 2011

Konstruktivistische Entwicklungstheorie des beruflichen Verhaltens. Teil 1 (Theorien der Berufswahl aus der Sicht schulischer Berufsorientierung 3)

Die folgende Darstellung lässt sich leiten von der Darstellung der Theorie im Kapitel 5 „Career Construction. A Developmental Theory of Vocational Behavior“, von Mark L. Savickas, in Duane Brown (Hrsg.): Career Choice and Development. 4. Auflage, San Francisco 2002, S. 149-205.


Die Auswahl einer Entwicklungstheorie an dritter Stelle meiner Skizze von Berufswahltheorien hat zwei Gründe: Die Entwicklungstheorie lässt sich als ergänzende, aber auch transformierende Fortschreibung der zunächst vorgestellten Theorien verstehen.

Der Blick auf die Person wird über die Eigenschaftsperspektive hinweg auf die der sich entwickelnden Individualität ausgeweitet.

Die Fremdzuschreibung von Eigenschaftsmustern, die über standardisierte Testverfahren erhoben werden, also von einem vorgestellten Dritten („Forscher“ / „Psychologin“ / „Berater“) vorgenommen wird, wird zumindest partiell ersetzt um die der narrativen Selbstzuschreibung: Berufsbiographie als laufend zu konstruierende, kontextabhängige Erzählung des „Betroffenen“ selbst.

Beide Erweiterungen sind für Schule von Bedeutung. Der entwicklungstheoretische Theoriestrang, seinerseits wird er in einem weiteren Beitrag um die Theorie von Linda Gottfredson zu erweitern sein, ermöglicht die Anknüpfung an die Bemühungen um individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler. Vermutlich wird die Entwicklungstheorie zudem auch die Brücke schlagen zwischen den theoretischen und für die Schülerinnen und Schüler zunächst nicht in wünschenswertem Ausmaße verständlichen Ergebnisse eigenschaftstheoretischer Art, die etwa in Kompetenzfeststellungsverfahren oder in der Durchführung der Planet-Berufe-Verfahren gewonnen werden.

Die Umstellung von der Zuschreibung auf die Selbstzuschreibung beruflicher Orientierungen wird, so vermute ich, einen Beitrag zur Motivation liefern. Freilich wird innerhalb von Schule Raum zur Verfügung stehen müssen, in dem mit narrativen Verfahren gearbeitet werden kann.

1. Individuelle Entwicklung vs. individuelle UnterschiedeEinerseits ergänzt die Entwicklungstheorie die zuletzt vorgestellte Theorie Hollands um die Perspektive der individuellen Entwicklung. Ihr geht es nicht um berufliches Verhalten, insofern es darstellbar ist durch Kombination feststellbarer Persönlichkeitszüge bzw. derart charakterisierbarer Arbeitsumwelten, sie konzentriert sich nicht „on occupations and the types of people who fill them“, bzw. sucht nicht „a few stable traits or personality types“ zu identifizieren, „that differentiates people in meaningful ways relative to occupational requirements.“ (vgl. das RIASEC-Verfahren http://stubotagebuch.blogspot.com/2010/11/hollands-theorie-teil-6.html). Ihr geht es um die Entwicklung der Persönlichkeit, sofern diese für die berufliche Orientierung von Bedeutung ist.
Die Eigenschaftstheorie muss sich bei Momentaufnahmen der Person bescheiden. Die Entwicklungstheorie gibt den Blick frei für das ganze (Berufs-)Leben. Sie gibt einen Überblick.

Aus schulischer Perspektive kommen damit auch die Lehrerinnen und Lehrer mit ihren jeweiligen beruflichen Entwicklungsphasen ins Thema und nicht nur die Kinder und Jugendlichen. Hier könnte sich eine neue vertrauensvolle Berufsorientierung ergeben, wenn die Lehrerinnen und Lehrer z.B. nicht nur als beruflich „fertige“, „ausgebildete“ Personen, die „das“ alles hinter sich haben, den unsicher-suchenden Schülern gegenübertreten, sondern ebenso als suchende, nur eben in einer anderen Entwicklungsphase mit ihren je eigenen Entwicklungsaufgaben (Konkretes hierzu unten).


2. Sozialer Konstruktivismus vs. Fremdzuschreibung von Eigenschaften

Die berufliche Entwicklungstheorie lehnt sich an die Forschungen zum Sozialen Konstruktivismus an. Insofern wird hier der rote Faden einer prozessorientierten Berufswahltheorie aufgegriffen, der in der zunächst vorgestellten Sozial-kognitiven Berufswahltheorie im Ausgang von den Forschungsergebnissen Albert Banduras verfolgt worden war (s. die früheren Beiträge auf diesem Blog).




Eine gute Orientierung mit Blick auf die Prinzipien des Sozialen Konstruktivismus gibt das Arbeitspapier 7 der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung, S.9-14 in Thesenform gegeben werden. (Link über das Bild):


3. Organistisches vs. kontextualistisches Weltmodell

Eine weitere These, die für die Berufswahlforschung von Bedeutung ist, stellt fest, dass die Berufsvorstellungen der Person nicht der Ausdruck eines sich entwickelnden beruflichen Kerns sind, der sich bei entsprechenden Umwelteigenschaften einem Programm gemäß entfaltet, so wie der erblühte Baum aus dem Samenkorn:

„Carrers do not unfold; they are constructed.“

Darin liegt „the switch from an organismic worldview to a contextualistic worldview – one more attuned to coceptualizing development as driven by adaptation to an environment than by maturation of inner structures.” (Savickas in: Brown 2002, S. 154)

Hier fragt man sich natürlich, ob es nicht doch auch die Anlage ist, welche zur Steuerung der Konstruktionen beiträgt. Die Frage ist nur wie, warum und wann. Das gilt zum Beispiel für das Temperament einer Person.
Die Forschungsmeinung geht wohl z.Zt. eher dahin, dass Anlage Steuerungsspielräume (auf Zeit? Sensible Phasen / Zeitfenster) eröffnet, die über Umwelt im förderlichen wie abträglichen Sinne verdeckt oder freigelegt, freigehalten, stimuliert werden können.

(Vgl. etwa Fonagy u.a.: Affektregulierung, Mentalisierung und Entwicklung des Selbst, Stuttgart 2004, S. 121: „Bohmann (1996) berichtete, dass Kriminalität lediglich in solchen Fällen auch mit einem genetischen Risiko zusammenhängt, in denen Kinder mit kriminellen leiblichen Eltern von dysfunktionalen Familien adoptiert wurden. Ob ein genetisches Risiko manifest wird oder nicht, hängt also von der Qualität der familiären Umwelt ab, in der das Kind aufwächst.“)

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