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Samstag, 31. Dezember 2011

Gottfredson's Entwicklungstheorie beruflichen Verhaltens 4: Ansätze zur Stärkung unserer Selbsterkenntnis, (auch) in der Berufsorientierung (Exkurs)


Dieser Exkurs folgt insbesondere dem Abschnitt „Improving our self-knowledge“, in: Robert C. Reardon u.a.: Career development and planning. A comprehensive approach, Belmont CA: Wadsworth 2000, S. 39ff.

Wie lässt sich die berufsorientierende Selbst-Erkenntnis der Schülerinnen und Schüler stärken?

3.1 Möglichst vielfältige Erfahrungen über einen möglichst großen Zeitraum hinweg sammeln: „We can develop stronger images of ourselves by getting varied experiences in many different work settings and by paying attention to our feelings and reactions to these experiences. As the old saying goes, ‘if you follow your own nose, you’ll never get lost.’ This can mean that even a part-time, volunteer experience may help you sharpen and clarify your values, interests, and skills related to occupations and work. Teaching six-year-olds in Sunday School may help you realize how happy or frustrated you become when working with children. ‘Watch your feet’ to see how you’re really thinking and feeling, because we talk with our mouths but vote with our feet. […]
it is important for us to seek out and acquire as many different career/life experiences as we possibly can. Even if they turn out to be experiences we don’t like and are unhappy about, the experiences will improve our self-knowledge store.” (Gottfredson in Brown 2002, S. 40f.)

Zudem ist es wichtig, die Erfahrungen auch zeitlich breit anzulegen. Erfahrungen brauchen Zeit, um „anzukommen“, um zu wirken, um sich mit Interessen, Stärken und Werten zu Berufszielen zu verbinden.
Umgekehrt: Wer seine Erfahrungen bloß auf drei Schulpraktika stützt und diese auch noch nach Kriterien der Bequemlichkeit (fußläufige Erreichbarkeit, günstige Praktikumszeiten, geringer Auswahlaufwand, etwa durch ein Praktikum bei einem Bekannten der Familie usw.) auswählt und nicht nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken, Interessen und Werten, muss sich nicht wundern, wenn ihn die schulische BO nicht weiterbringt. Hier gilt, was für Lernen überhaupt gilt, niemand kann gelernt werden. Man muss das schon selber machen.

3.2 Erfahrungen ihren angemessenen Stellenwert einräumen: nicht vorschnell oder ohne Not überzuverallgemeinern, zu Wesensaussagen werden lassen.

Natürlich hat dies auch eine entlastende Funktion im Prozess der Berufsorientierung, wenn man „weiß“, dass man dieses oder jenes „nicht kann“ und darum nicht will. Darum muss man sich dann nicht mehr kümmern. Aufgabe der schulischen BO ist es so auch, eine Atmosphäre zu schaffen, in der der Schüler mit seinem Selbstkonzept experimentieren kann. Dies setzt vor allem Gelegenheit voraus und das bedeutet, dass die BO nicht am Ende der Schullaufbahn im Schnelldurchlauf erfolgen kann: ein weiterer Grund für eine möglichst frühzeitig einsetzende BO.

Zunächst ist es wichtig, Erfahrungen aus der Vergangenheit ihren angemessenen Stellenwert einzuräumen, das heißt sie weder zu ignorieren noch zu sehr zu verallgemeinern. Hilfreich ist es, Erfahrungen nicht als Wesensaussagen oder Wesensbestätigungen zu nehmen („Ich bin mathematisch unbegabt.“; „Ich habe zwei linke Hände.“; „Ich kann nicht auf Menschen zugehen.“; „Ich kann keine Sprachen lernen.“ Usw. usf.), sondern als Herausforderungen, Ansatzpunkte, um Hindernisse auf dem Weg zum Wunschberuf aus dem Wege zu räumen. Hierzu ist allerdings ein gutes, d.h. vor allem individualisiertes, schulisches Beratungs- und Unterstützungssystem erforderlich. In ihm werden in gemeinsam mit der Schülerin in überschaubaren und darum eher bewältigbaren Schritten Hilfen realisiert. Erfolg wird immer wieder erlebbar und spornt an, vermag etwa das negative Selbstkonzept handwerklicher Unbeholfenheit aufzulösen.

Übrigens: Es gibt auch eine Überverallgemeinerung aufgrund positiver Erfahrungen. Wer eine „eins“ in Mathematik und Physik hat, muss noch nicht als Maschinenbauer glücklich werden. Es sind aber wertvolle Hinweise, welche den Orientierungs-Prozess gestalten helfen.

3.3 Erfahrungen ihrem grundsätzlichen Hinweischarakter nach einschätzen: eine Begabung, ein Können nicht darum ausblenden, weil ihm vermeintlich Berufe korrespondieren, die auf der Prestigeskala (s.u.) nicht hoch genug angesiedelt sind und darum abgelehnt werden: „Ich möchte mal studieren, ein Praktikum bei einem Uhrmacher bringt mir darum nichts.“
Ich habe gerade (scil. 30.12.2011, JHW) die Begriffe „handwerkliches Können“ und „Chirurgie“ gegoogelt. Eines der ersten Ergebnisse stammt von der Homepage des KlinikumsBogenhausen für Plastische Chirurgie: „Handwerkliches Können und höchste Präzision sind hier Voraussetzungen, aber auch Kreativität und künstlerische Begabung spielen in der Plastischen Chirurgie eine außerordentlich wichtige Rolle. Denn bei allen rekonstruktiven Eingriffen geht es uns nicht nur darum, Funktionalität und Ästhetik des betroffenen Körperteils wiederherzustellen und dabei die Folgen, z.B. einer Entnahme, auf ein Minimum zu reduzieren. Unser oberstes Ziel ist es, für jede Patientin und jeden Patienten die individuell optimale Lösung zu finden.“ Natürlich kann ein Praktikum bei einem Uhrmacher nicht über die Befähigung zum Medizinstudium entscheiden. Das soll es auch nicht. Allein: Es kommt auf die Selbst-Erfahrungen an, die Denkanstöße, die Erweiterung, Ausdifferenzierung, Veränderung des Selbstkonzepts.

Hier ist Phantasie gefragt, die Fähigkeit über die konkrete Situation hinauszudenken, aber auch Offenheit, um sich auf Situationen einzulassen, ohne zu wissen, wofür das gut sein könnte. Auch hier ist die schulische BO in der Pflicht, die Schülerin in die Lage zu versetzen, Erfahrungen zu machen und diese in Gesprächen auszuwerten. Mangelnde Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, erlebe ich immer wieder als ein Problem.


3.4 Formative Erfahrungen anstreben. Hierbei handelt es sich um einen trivialen und wesentlichen Imperativ zugleich, der in der Schul-Praxis oftmals nicht beachtet wird: Nur wenn ich den zu mir wirklich passenden Beruf bzw. das Tätigkeitsmuster dieses Berufsbereichs kenne, kann ich ihn auch anstreben. Es bleibt ansonsten mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob der entsprechende Matching-Prozess stattfindet oder nicht. „For instance, although we might possess the necessary ability and personality for some particular vocational interest, we may not know this if we never have – or make – the opportunity to experience the pertinent activities. Without that formative experience, we may never reconsider suitable occupations that we unreflectively rejected many years before but that might be accessible if we now take appropriate action. Lack of self-knowledge acts much like social barriers; by limiting options unnecessarily, it renders both circumscription and compromise non-optional.” (Gottfredson in Brown 2002, S. 132f.)

Die angemessene Antwort der Schule kann nach meiner Einschätzung wiederum nur die Pflege einer Atmosphäre und Grundhaltung sein, in der jede Schülerin, jeder Schüler möglichst viele Erfahrungen sammeln kann, Erfahrungen, die formativen Charakter annehmen.

Das gilt besonders für Kinder, deren Herkunft nicht so viele Möglichkeiten bereiten kann: „Not all jobs and lives are visible or available from our particular places of origin. The freer we are, however, to explore the full range of possible activities and roles, regardless of birth status (religion, race, class, gender, and so on), the broader the range of formative experiences we will tend to have.“ (a.a.O., S. 125, vgl. auch S. 95)

3.5 Schülerorientierung. BO sollte die BO des Schülers sein: seine Einschätzung der Werte, Interessen und Fähigkeiten im Verhältnis zu beruflichen Chancen sollten dominieren und nicht die der Eltern, Lehrer oder sonstigen Beraterinnen. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem im Selbstkonzept zentrierten Ansatz. Hier können Konflikte insbesondere mit dem Elternhaus (Familientradition, hohe Berufprestigesaspiration) entstehen und sind Anlass für Gespräche. Für die Schule ist es wichtig, dass ihre Aufgabe Berufsorientierung ist und nicht Berufswahl, dass jene aber zugleich Schüler zentriert und gehalten ist, möglichst vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen.

3.6 Die mögliche Unterstützung Dritter sollte genutzt werden. Ich erfahre immer wieder Zurückhaltung, wenn ich bei Orientierungsbedarf auch die psychologischen Testmöglichkeiten der Arbeitsagentur ins Spiel bringe. Hierbei handelt es sich um hochqualifizierte Psychologenteams, die aussagekräftige Testverfahren und Gespräche anbieten können, welche die Möglichkeiten der Schule weit übersteigen. Dem hier von mir wahrgenommenen Problem „Ich gehe doch nicht zum Psychologen.“ Sollte auch vermehrt durch Aufklärungsarbeit der Arbeitsagentur entgegnet werden. Jede der 180 Agenturen verfügt über einen Psychologischen Dienst.



3.7 Schließlich: Berufsbezogene Entwicklung des Selbstkonzepts ist ein lebenslanger Prozess, der nicht mit Beginn des Erwachsenenalters endet. Auch dies ist eine Herausforderung und eine Entlastung zugleich.
Legt man sich fest, so legt man sich nicht für das Leben fest, nicht für den Beruf, auch nicht für das Berufsprestige und damit die soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft, die im Hintergrund der Berufswahl wirksam ist (soziale Aufwärts- aber auch Abwärtsmobilität durch Beruf). Zudem entwickelt sich das Selbstkonzept auch hinsichtlich der Persönlichkeitstypen: Man weiß z.B., dass die Ausprägung der Enterprising-Typisierung auch abhängig vom Lebensalter ist. Unternehmerische und führend-leitende Berufsorientierung prägt sich oftmals erst in höherem Lebensalter aus, so wenn etwa eine Person mit hoher investigativ-forschender Typausprägung (Chemiker in der Forschung) Interesse an leitenden Aufgaben entwickelt (Chemiker übernimmt Leitungsaufgaben innerhalb der Firma und erhöht auf diesem Wege die Berufszufriedenheit, da er seine weiterentwickelte Persönlichkeit in seiner Tätigkeit wiederum intensiv verwirklichen kann). Für die schulische BO mit ihrer ganzheitlichen Aufgabe bedeutet dies, dass z.B. unternehmerische Tätigkeit gezielt gefördert werden muss. 
Schülerfirmenprojekte

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