Dieser Exkurs folgt insbesondere dem Abschnitt „Improving our
self-knowledge“, in: Robert C. Reardon u.a.: Career development and planning. A
comprehensive approach, Belmont
CA : Wadsworth 2000, S. 39ff.
3.1 Möglichst vielfältige
Erfahrungen über einen möglichst großen Zeitraum hinweg sammeln: „We can
develop stronger images of ourselves by getting varied experiences in many
different work settings and by paying attention to our feelings and reactions
to these experiences. As the old saying goes, ‘if you follow your own nose,
you’ll never get lost.’ This can mean that even a part-time, volunteer
experience may help you sharpen and clarify your values, interests, and skills
related to occupations and work. Teaching six-year-olds in Sunday School may
help you realize how happy or frustrated you become when working with children.
‘Watch your feet’ to see how you’re really thinking and feeling, because we
talk with our mouths but vote with our feet. […]
it is important for us to seek out and acquire as many different
career/life experiences as we possibly can. Even if they turn out to be
experiences we don’t like and are unhappy about, the experiences will improve
our self-knowledge store.” (Gottfredson
in Brown 2002, S. 40f.)
Zudem ist es wichtig, die
Erfahrungen auch zeitlich breit anzulegen. Erfahrungen brauchen Zeit, um
„anzukommen“, um zu wirken, um sich mit Interessen, Stärken und Werten zu
Berufszielen zu verbinden.
Umgekehrt: Wer seine
Erfahrungen bloß auf drei Schulpraktika stützt und diese auch noch nach
Kriterien der Bequemlichkeit (fußläufige Erreichbarkeit, günstige
Praktikumszeiten, geringer Auswahlaufwand, etwa durch ein Praktikum bei einem
Bekannten der Familie usw.) auswählt und nicht nach einer intensiven
Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken, Interessen und Werten, muss sich
nicht wundern, wenn ihn die schulische BO nicht weiterbringt. Hier gilt, was
für Lernen überhaupt gilt, niemand kann gelernt werden. Man muss das schon
selber machen.
3.2 Erfahrungen ihren angemessenen Stellenwert einräumen:
nicht vorschnell oder ohne Not überzuverallgemeinern, zu Wesensaussagen werden
lassen.
Natürlich hat dies auch eine
entlastende Funktion im Prozess der Berufsorientierung, wenn man „weiß“, dass
man dieses oder jenes „nicht kann“ und darum nicht will. Darum muss man
sich dann nicht mehr kümmern. Aufgabe der schulischen BO ist es so auch, eine
Atmosphäre zu schaffen, in der der Schüler mit seinem Selbstkonzept
experimentieren kann. Dies setzt vor allem Gelegenheit voraus und das bedeutet,
dass die BO nicht am Ende der Schullaufbahn im Schnelldurchlauf erfolgen kann:
ein weiterer Grund für eine möglichst frühzeitig einsetzende BO.
Zunächst ist es wichtig,
Erfahrungen aus der Vergangenheit ihren angemessenen Stellenwert einzuräumen,
das heißt sie weder zu ignorieren noch zu sehr zu verallgemeinern. Hilfreich
ist es, Erfahrungen nicht als Wesensaussagen oder Wesensbestätigungen zu nehmen
(„Ich bin mathematisch unbegabt.“; „Ich habe zwei linke Hände.“; „Ich kann
nicht auf Menschen zugehen.“; „Ich kann keine Sprachen lernen.“ Usw. usf.),
sondern als Herausforderungen, Ansatzpunkte, um Hindernisse auf dem Weg zum
Wunschberuf aus dem Wege zu räumen. Hierzu ist allerdings ein gutes, d.h. vor
allem individualisiertes, schulisches Beratungs- und Unterstützungssystem
erforderlich. In ihm werden in gemeinsam mit der Schülerin in überschaubaren
und darum eher bewältigbaren Schritten Hilfen realisiert. Erfolg wird immer
wieder erlebbar und spornt an, vermag etwa das negative Selbstkonzept
handwerklicher Unbeholfenheit aufzulösen.
Übrigens: Es gibt auch eine
Überverallgemeinerung aufgrund positiver Erfahrungen. Wer eine „eins“ in
Mathematik und Physik hat, muss noch nicht als Maschinenbauer glücklich werden.
Es sind aber wertvolle Hinweise, welche den Orientierungs-Prozess gestalten
helfen.
3.3 Erfahrungen ihrem grundsätzlichen Hinweischarakter nach
einschätzen: eine Begabung, ein Können nicht darum ausblenden, weil ihm
vermeintlich Berufe korrespondieren, die auf der Prestigeskala (s.u.) nicht
hoch genug angesiedelt sind und darum abgelehnt werden: „Ich möchte mal
studieren, ein Praktikum bei einem Uhrmacher bringt mir darum nichts.“
Ich habe gerade (scil.
30.12.2011, JHW) die Begriffe „handwerkliches Können“ und „Chirurgie“
gegoogelt. Eines der ersten Ergebnisse stammt von der Homepage des KlinikumsBogenhausen für Plastische Chirurgie: „Handwerkliches Können und höchste Präzision sind hier Voraussetzungen, aber auch Kreativität und künstlerische Begabung spielen in der Plastischen Chirurgie eine außerordentlich wichtige Rolle. Denn bei allen rekonstruktiven Eingriffen geht es uns nicht nur darum, Funktionalität und Ästhetik des betroffenen Körperteils wiederherzustellen und dabei die Folgen, z.B. einer Entnahme, auf ein Minimum zu reduzieren. Unser oberstes Ziel ist es, für jede Patientin und jeden Patienten die individuell optimale Lösung zu finden.“ Natürlich kann ein Praktikum bei einem Uhrmacher nicht über die Befähigung zum
Medizinstudium entscheiden. Das soll es auch nicht. Allein: Es kommt auf die Selbst-Erfahrungen
an, die Denkanstöße, die Erweiterung, Ausdifferenzierung, Veränderung des
Selbstkonzepts.
Hier ist Phantasie gefragt,
die Fähigkeit über die konkrete Situation hinauszudenken, aber auch Offenheit,
um sich auf Situationen einzulassen, ohne zu wissen, wofür das gut sein könnte.
Auch hier ist die schulische BO in der Pflicht, die Schülerin in die Lage zu
versetzen, Erfahrungen zu machen und diese in Gesprächen auszuwerten. Mangelnde
Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, erlebe ich immer wieder als ein
Problem.
3.4 Formative Erfahrungen anstreben. Hierbei handelt es sich um einen
trivialen und wesentlichen Imperativ zugleich, der in der Schul-Praxis oftmals
nicht beachtet wird: Nur wenn ich den zu mir wirklich passenden Beruf bzw. das
Tätigkeitsmuster dieses Berufsbereichs kenne, kann ich ihn auch anstreben. Es
bleibt ansonsten mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob der entsprechende
Matching-Prozess stattfindet oder nicht. „For instance, although we
might possess the necessary ability and personality for some particular
vocational interest, we may not know this if we never have – or make – the
opportunity to experience the pertinent activities. Without that formative
experience, we may never reconsider suitable occupations that we unreflectively
rejected many years before but that might be accessible if we now take
appropriate action. Lack of self-knowledge acts much like social barriers; by
limiting options unnecessarily, it renders both circumscription and compromise
non-optional.” (Gottfredson in Brown
2002, S. 132f.)
Die angemessene Antwort der
Schule kann nach meiner Einschätzung wiederum nur die Pflege einer Atmosphäre und
Grundhaltung sein, in der jede Schülerin, jeder Schüler möglichst viele
Erfahrungen sammeln kann, Erfahrungen, die formativen Charakter annehmen.
Das gilt besonders für
Kinder, deren Herkunft nicht so viele Möglichkeiten bereiten kann: „Not all
jobs and lives are visible or available from our particular places of origin. The freer we are,
however, to explore the full range of possible activities and roles, regardless
of birth status (religion, race, class, gender, and so on), the broader the
range of formative experiences we will tend to have.“ (a.a.O., S. 125, vgl. auch S. 95)
3.5 Schülerorientierung. BO sollte die BO des Schülers sein: seine
Einschätzung der Werte, Interessen und Fähigkeiten im Verhältnis zu beruflichen
Chancen sollten dominieren und nicht die der Eltern, Lehrer oder sonstigen
Beraterinnen. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem im Selbstkonzept zentrierten
Ansatz. Hier können Konflikte insbesondere mit dem Elternhaus
(Familientradition, hohe Berufprestigesaspiration) entstehen und sind Anlass
für Gespräche. Für die Schule ist es wichtig, dass ihre Aufgabe Berufsorientierung
ist und nicht Berufswahl, dass jene aber zugleich Schüler zentriert und
gehalten ist, möglichst vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen.
3.6 Die mögliche Unterstützung Dritter sollte genutzt
werden. Ich erfahre immer wieder Zurückhaltung, wenn ich bei
Orientierungsbedarf auch die psychologischen Testmöglichkeiten der
Arbeitsagentur ins Spiel bringe. Hierbei handelt es sich um hochqualifizierte
Psychologenteams, die aussagekräftige Testverfahren und Gespräche anbieten
können, welche die Möglichkeiten der Schule weit übersteigen. Dem hier von mir
wahrgenommenen Problem „Ich gehe doch nicht zum Psychologen.“ Sollte auch
vermehrt durch Aufklärungsarbeit der Arbeitsagentur entgegnet werden. Jede der 180 Agenturen
verfügt über einen Psychologischen Dienst.
3.7 Schließlich:
Berufsbezogene Entwicklung des Selbstkonzepts ist ein lebenslanger Prozess, der nicht mit Beginn des Erwachsenenalters
endet. Auch dies ist eine Herausforderung und eine Entlastung zugleich.
Legt man sich fest, so legt
man sich nicht für das Leben fest, nicht für den Beruf, auch nicht für das
Berufsprestige und damit die soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft, die
im Hintergrund der Berufswahl wirksam ist (soziale Aufwärts- aber auch
Abwärtsmobilität durch Beruf). Zudem entwickelt sich das Selbstkonzept auch
hinsichtlich der Persönlichkeitstypen:
Man weiß z.B., dass die Ausprägung der Enterprising-Typisierung auch abhängig
vom Lebensalter ist. Unternehmerische und führend-leitende Berufsorientierung
prägt sich oftmals erst in höherem Lebensalter aus, so wenn etwa eine Person
mit hoher investigativ-forschender Typausprägung (Chemiker in der Forschung)
Interesse an leitenden Aufgaben entwickelt (Chemiker übernimmt Leitungsaufgaben
innerhalb der Firma und erhöht auf diesem Wege die Berufszufriedenheit, da er
seine weiterentwickelte Persönlichkeit in seiner Tätigkeit wiederum intensiv
verwirklichen kann). Für die schulische BO mit ihrer ganzheitlichen Aufgabe
bedeutet dies, dass z.B. unternehmerische Tätigkeit gezielt gefördert werden
muss.
Schülerfirmenprojekte
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen