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Samstag, 31. Dezember 2011

Gottfredson's Entwicklungstheorie beruflichen Verhaltens 6: Der Prozess der Berufsfindung als solcher der Aussonderung


Nachdem die Grundbegriffe skizziert sind, kann nun der Prozess der Berufsfindung als Entwicklung des Selbstkonzepts dargestellt werden. Berufsfindung wird als ein Passungsprozess („matching process“) zwischen Werten, Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Person und dem Arbeitsmarkt mit seinem Angebot von Berufen gesehen. Der junge Mensch muss also nicht nur die Welt der Berufe mit ihren Anforderungsstrukturen kennen lernen, sondern auch sich und es verstehen, beides in Übereinstimmung zu bringen. Dies ist eine intellektuell stark fordernde Aufgabe, zumal der heranwachsende junge Mensch sich in einer rasanten Entwicklung befindet.

Linda Gottfredson unterscheidet vier Stufen, in denen sich diese Entwicklung als solche der Eingrenzung („circumscription“) und des Kompromisses („compromise“) darstellt. Im Mittelpunkt steht also die Aussonderung von Berufen und Berufsgruppen, und nicht etwa die Verstärkung von attraktiven Berufen. Am Ende steht eine umgrenzte Zone auf der Landkarte der möglichen Berufe, welches die von der Person akzeptierten Berufe abbildet. Am Beginn steht die Eingrenzung der für das Kind annehmbaren Berufsalternativen. Mit zunehmenden Alter vermag das Kind aufgrund abstrakterer Kriterien über Eignung („suitability“) und Vereinbarkeit („compatibility“) Berufe auszusondern. Dieser Prozess verläuft meistens unwissentlich und ohne dass das Kind sich viel damit beschäftigte, was denn die Leute eigentlich genau tun in den Berufen, deren Möglichkeit es für sich von vornherein ausschließt. Alle Kinder bewegen sich über vier Stufen der Eingrenzung, unterschiedlich schnell in Abhängigkeit insbesondere von ihren geistigen Fähigkeiten. Die Zeitangaben der entsprechenden Phasen können daher nur als Annäherungswerte gelten.

Die vier Stufen der Eingrenzung ("circumscription")

Stufe 1: Orientierung an Größe und Macht (Lebensalter 3 bis 5)

Kinder klassifizieren Menschen zunächst nach den Attributen der Größe und der Macht. Sie möchten nicht mehr Tiere, Phantasiefiguren oder unbelebte Gegenstände sein. Sie wissen, dass sie irgendwann auch groß sein werden und das es so etwas wie Berufe gibt.

Stufe 2: Orientierung am Geschlechtscharakter von Rollen (Lebensalter 6 bis 8)


Kinder in diesem Alter denken in konkreten Begriffen und nehmen einfache Unterscheidungen vor. Die ihnen wichtigen Berufe sind diejenigen, denen sie oft begegnen bzw. die besonders ins Auge fallen oder die etwas mit Dingen zu tun haben, die sie mögen: Lehrerinnen, Polizisten, Piloten, Fahrer eines großen LKW. Sie denken im Entweder-oder-Modus und nehmen Berufe als weiblich oder männlich wahr. Ihr eigenes Geschlecht wird als höherwertig empfunden. Die Geschlechtsrolle, die mit Berufen verbunden wird, steht im Vordergrund. Berufe des anderen Geschlechts werden eher ausgeschlossen.

Stufe 3: Orientierung an sozialer Wertschätzung (Lebensalter 9 bis 13)


Nun drängt sich eine zweite Unterscheidung in den Vordergrund: die der sozialen Wertschätzung oder des Prestiges von Berufen. Es geht nicht mehr nur um männlich vs. weiblich, sondern um höher vs. niedriger. Mit neun Jahren beginnen Kinder Berufe mit niedrigerem Prestige auszusondern. Sie bemerken nun die Symbolkraft von Kleidung, Umgangsformen und Besitz für soziale Klassen. Mit 13 Jahren sind Kinder in der Lage, Berufe wie Erwachsene nach ihrem Prestige einzuordnen und die Zusammenhänge zwischen Einkommen, (Aus-)Bildung und Beruf zu verstehen. „It has become clear to them that there is an occupational hierarchy that affects how people live their lives and are regarded by others.” (Gottfredson in Brown 2002, S. 96) Sie haben ebenfalls gelernt, welche Berufe ihre eigenen Familien als nichtakzeptabel niedrig einschätzen und diese ausgesondert. „In short, they have begun to sense a ceiling and a floor for their attainments.” (a.a.O.) Kinder übernehmen diese Wertungen ihrer Familien (und der peers, möchte ich hinzufügen) in ihr Selbstkonzept und sondern entsprechend nichtpassende Berufsgruppen aus.

Andererseits sondern sie diejenigen Berufsgruppen aus, zu deren Erlangung sie sich aufgrund ihrer Begabung nicht in der Lage sehen oder bei denen der Aufwand zu hoch ist. Hier spielt nicht die Familie, sondern die Schule die entscheidende Rolle: „Schools have perhaps the biggest impact today on children’s perceptions of occupational difficulty, because they starkly illuminate students’ differences in intelligence and thuds their prospects for rising socially via higher education. Such perceptions lead children to set a tolerable-effort boundary, above which they are not apt to look again unless their self-concepts of ability and competitiveness change.” (a.a.O., S. 98)

Sorgt die Familie dafür, dass Kinder das „Fundament“ des „Hauses“ ihrer möglichen Berufe legen, so die Schule für das „Dach“ oder die „Decke“. Berufe unterhalb und oberhalb der Begrenzungen werden ausgesondert. Nimmt man noch den Geschlechtscharakter der Berufe als die weitere Grundunterscheidung hinzu, so bilden sich die „Wände“ des „Hauses“ akzeptabler Berufe. Dies könnte – ich bitte um Nachsicht wegen der improvisierten Zeichnung - etwa so visualisiert werden:

Das „Haus“ (rotes Rechteck) akzeptabler Berufe
für einen Jungen aus der Mittelschicht und durchschnittlicher Begabung
(= Zone der akzeptablen Alternativen)



Es gibt in unserem Beispiel acht Möglichkeiten, die Größe des Hauses, in dem die Berufsorientierung stattfindet, zu verändern:

  • Entweder der Junge schränkt den männlichen Charakter ein (Bewegung nach rechts) oder weitet ihn aus (das ist für ihn nicht möglich, da er schon sehr männliche Berufe berücksichtigt)
  • oder er erweitert das Haus hin zu weiblicheren Berufstypen (Versetzung der Wand nach rechts) oder schränkt diese Ausrichtung noch weiter ein oder
  • man erhöht oder erniedrigt die Decke oder
  • erhöht oder erniedrigt das Fundament.

Allgemein kann gesagt werden, dass ein hoher sozialer Background und eine hohe Begabung das Haus nach oben verlagern und umgekehrt. Ein Kind mit einer niedrigen Begabung und höherem Background wird weniger Alternativen für sich sehen als ein Kind mit hoher Begabung und niedrigerem sozialen Hintergrund. Decke und Fundament werde bei jenem viel näher zusammen sein als bei diesem.

Stufe 4: Orientierung am eigenen, einzigartigen Selbst (14 Jahre und älter)

Adoleszente nehmen nun ihren angestrebten Platz in der Gesellschaft mehr oder weiniger als selbstverständlich hin. Da sie mit ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht beschäftigt sind, kann dies die Orientierung an Geschlechtsstereotypien verstärken. Zentrale Frage aber ist nun: „Wer bin ich als Individuum?“ und nicht als Geschlecht oder als Angehöriger einer sozialen Schicht. Nicht selten suchen sich Jugendliche gerade durch Absetzung von ihrem Herkunftsmilieu und dessen Wertvorstellungen zu individuieren.
Sie beginnen sich intensiv auszutesten und Erfahrungen zu suchen, die ihnen ihre drängende Frage beantworten:

„Individuals often require experience in new activities and unfamiliar settings in order to diagnose and develop their specific strengths and weaknesses, likes and dislikes, and stance toward life. Few of us know the limits of our abilities or courage, for instance, until they are actually tested. And many an education or business major has solidified – or changed- career plans after taking a course that gives them actual field experience.” (Gottfredson in Brown 2002, S. 99f.)

Im Unterschied zu den ersten drei Stufen, in denen Berufe ausgesondert wurden, schreitet der Jugendliche nun von der Abwahl zur Wahl. Er konzentriert sich nun positiv auf das, was innerhalb des gebauten Hauses infrage kommt.

Hiermit beginnt der Übergang von der Phase der Einschränkung zu der des Kompromisses.


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