Nachdem die Grundbegriffe
skizziert sind, kann nun der Prozess der Berufsfindung als Entwicklung des
Selbstkonzepts dargestellt werden. Berufsfindung wird als ein Passungsprozess
(„matching process“) zwischen Werten, Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten
der Person und dem Arbeitsmarkt mit seinem Angebot von Berufen gesehen. Der
junge Mensch muss also nicht nur die Welt der Berufe mit ihren
Anforderungsstrukturen kennen lernen, sondern auch sich und es verstehen,
beides in Übereinstimmung zu bringen. Dies ist eine intellektuell stark
fordernde Aufgabe, zumal der heranwachsende junge Mensch sich in einer rasanten
Entwicklung befindet.
Linda Gottfredson
unterscheidet vier Stufen, in denen sich diese Entwicklung als solche der
Eingrenzung („circumscription“) und des Kompromisses („compromise“) darstellt.
Im Mittelpunkt steht also die Aussonderung von Berufen und Berufsgruppen, und
nicht etwa die Verstärkung von attraktiven Berufen. Am Ende steht eine umgrenzte
Zone auf der Landkarte der möglichen Berufe, welches die von der Person
akzeptierten Berufe abbildet. Am Beginn steht die Eingrenzung der für das Kind
annehmbaren Berufsalternativen. Mit zunehmenden Alter vermag das Kind aufgrund
abstrakterer Kriterien über Eignung („suitability“) und Vereinbarkeit
(„compatibility“) Berufe auszusondern. Dieser Prozess verläuft meistens
unwissentlich und ohne dass das Kind sich viel damit beschäftigte, was denn die
Leute eigentlich genau tun in den Berufen, deren Möglichkeit es für sich von
vornherein ausschließt. Alle Kinder bewegen sich über vier Stufen der
Eingrenzung, unterschiedlich schnell in Abhängigkeit insbesondere von ihren
geistigen Fähigkeiten. Die Zeitangaben der entsprechenden Phasen können daher
nur als Annäherungswerte gelten.
Die vier Stufen der
Eingrenzung ("circumscription")
Stufe 1: Orientierung
an Größe und Macht (Lebensalter 3 bis 5)
Kinder klassifizieren
Menschen zunächst nach den Attributen der Größe und der Macht. Sie möchten
nicht mehr Tiere, Phantasiefiguren oder unbelebte Gegenstände sein. Sie wissen,
dass sie irgendwann auch groß sein werden und das es so etwas wie Berufe gibt.
Stufe 2: Orientierung
am Geschlechtscharakter von Rollen (Lebensalter 6 bis 8)
Kinder in diesem Alter denken
in konkreten Begriffen und nehmen einfache Unterscheidungen vor. Die ihnen
wichtigen Berufe sind diejenigen, denen sie oft begegnen bzw. die besonders ins
Auge fallen oder die etwas mit Dingen zu tun haben, die sie mögen: Lehrerinnen, Polizisten, Piloten, Fahrer eines großen LKW. Sie denken im Entweder-oder-Modus und
nehmen Berufe als weiblich oder männlich wahr. Ihr eigenes Geschlecht wird als
höherwertig empfunden. Die Geschlechtsrolle, die mit Berufen verbunden wird,
steht im Vordergrund. Berufe des anderen Geschlechts werden eher
ausgeschlossen.
Stufe 3: Orientierung
an sozialer Wertschätzung (Lebensalter 9 bis 13)
![]() |
Nun drängt sich eine zweite
Unterscheidung in den Vordergrund: die der sozialen Wertschätzung oder des
Prestiges von Berufen. Es geht nicht mehr nur um männlich vs. weiblich, sondern
um höher vs. niedriger. Mit neun Jahren beginnen Kinder Berufe mit niedrigerem
Prestige auszusondern. Sie bemerken nun die Symbolkraft von Kleidung,
Umgangsformen und Besitz für soziale Klassen. Mit 13 Jahren sind Kinder in der
Lage, Berufe wie Erwachsene nach ihrem Prestige einzuordnen und die
Zusammenhänge zwischen Einkommen, (Aus-)Bildung und Beruf zu verstehen. „It has become
clear to them that there is an occupational hierarchy that affects how people
live their lives and are regarded by others.” (Gottfredson in Brown 2002, S. 96) Sie haben ebenfalls gelernt, welche
Berufe ihre eigenen Familien als nichtakzeptabel niedrig einschätzen und diese
ausgesondert. „In short, they have begun to sense a ceiling and a floor for their
attainments.” (a.a.O.) Kinder übernehmen
diese Wertungen ihrer Familien (und der peers, möchte ich hinzufügen) in ihr
Selbstkonzept und sondern entsprechend nichtpassende Berufsgruppen aus.
Andererseits sondern sie
diejenigen Berufsgruppen aus, zu deren Erlangung sie sich aufgrund ihrer
Begabung nicht in der Lage sehen oder bei denen der Aufwand zu hoch ist. Hier spielt nicht
die Familie, sondern die Schule die entscheidende Rolle: „Schools have perhaps
the biggest impact today on children’s perceptions of occupational difficulty,
because they starkly illuminate students’ differences in intelligence and thuds
their prospects for rising socially via higher education. Such perceptions lead
children to set a tolerable-effort boundary, above which they are not apt to
look again unless their self-concepts of ability and competitiveness change.” (a.a.O., S. 98)
Sorgt die Familie dafür, dass
Kinder das „Fundament“ des „Hauses“ ihrer möglichen Berufe legen, so die Schule
für das „Dach“ oder die „Decke“. Berufe unterhalb und oberhalb der Begrenzungen
werden ausgesondert. Nimmt man noch den Geschlechtscharakter der Berufe als die
weitere Grundunterscheidung hinzu, so bilden sich die „Wände“ des „Hauses“
akzeptabler Berufe. Dies könnte – ich bitte um Nachsicht wegen der
improvisierten Zeichnung - etwa so visualisiert werden:
Das „Haus“ (rotes Rechteck) akzeptabler Berufe
für einen Jungen aus der Mittelschicht und
durchschnittlicher Begabung
(= Zone der akzeptablen Alternativen)
Es gibt in unserem Beispiel
acht Möglichkeiten, die Größe des Hauses, in dem die Berufsorientierung
stattfindet, zu verändern:
- Entweder der Junge schränkt den männlichen
Charakter ein (Bewegung nach rechts) oder weitet ihn aus (das ist für ihn
nicht möglich, da er schon sehr männliche Berufe berücksichtigt)
- oder er erweitert das Haus hin zu weiblicheren
Berufstypen (Versetzung der Wand nach rechts) oder schränkt diese
Ausrichtung noch weiter ein oder
- man erhöht oder erniedrigt die Decke oder
- erhöht oder erniedrigt das Fundament.
Allgemein kann gesagt werden,
dass ein hoher sozialer Background und eine hohe Begabung das Haus nach oben
verlagern und umgekehrt. Ein Kind mit einer niedrigen Begabung und höherem
Background wird weniger Alternativen für sich sehen als ein Kind mit hoher
Begabung und niedrigerem sozialen Hintergrund. Decke und Fundament werde bei
jenem viel näher zusammen sein als bei diesem.
Stufe 4: Orientierung
am eigenen, einzigartigen Selbst (14 Jahre und älter)
Adoleszente nehmen nun ihren
angestrebten Platz in der Gesellschaft mehr oder weiniger als
selbstverständlich hin. Da sie mit ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht
beschäftigt sind, kann dies die Orientierung an Geschlechtsstereotypien
verstärken. Zentrale Frage aber ist nun: „Wer bin ich als Individuum?“ und
nicht als Geschlecht oder als Angehöriger einer sozialen Schicht. Nicht selten
suchen sich Jugendliche gerade durch Absetzung von ihrem Herkunftsmilieu und
dessen Wertvorstellungen zu individuieren.
Sie beginnen sich intensiv
auszutesten und Erfahrungen zu suchen, die ihnen ihre drängende Frage
beantworten:
„Individuals often require experience in new activities and unfamiliar
settings in order to diagnose and develop their specific strengths and
weaknesses, likes and dislikes, and stance toward life. Few of us know the
limits of our abilities or courage, for instance, until they are actually
tested. And many an education or business major has solidified – or changed-
career plans after taking a course that gives them actual field experience.”
(Gottfredson in Brown 2002, S. 99f.)
Im Unterschied zu den ersten
drei Stufen, in denen Berufe ausgesondert wurden, schreitet der Jugendliche nun
von der Abwahl zur Wahl. Er konzentriert sich nun positiv auf das, was
innerhalb des gebauten Hauses infrage kommt.
Hiermit beginnt der Übergang
von der Phase der Einschränkung zu der des Kompromisses.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen